Leseprobe aus  dem Inhalt

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 hier Dietrich von Hagenbach: “Deutschland deine Trümmer”

... Das Leben in dem badischen Dörfchen im tiefen Odenwald war Anfang 1945 zunächst noch von großer Furcht erfüllt, da mit dem Ende des Krieges die Wahrscheinlichkeit täglich näher rückte, dass der Feind einmarschieren konnte. Man hatte schon schreckliches gehört, wie schlimm die Rache der Russen war. Im Sprachgebrauch war das Wort Befreiung damals durchaus noch nicht allgemein üblich. Noch viele Jahre nach Kriegsende wurde viel mehr vom sogenannten "Zusammenbruch" gesprochen. Zunächst tauchten aber im Odenwald immer wieder fliehende deutsche Truppen auf, die für die Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen noch ernsthafte Probleme bereiten konnten.

Kampfgruppe Bongarzt war der Titel eines kleinen Regiments, das mit Sack und Pack, einigen Pferden und einem Pakgeschütz, einer Panzerabwehrkanone, nun im Dorf Quartier nahm und das Wirtshaus zum goldenen Adler als Befehlsstand mit Schreibstube und Stabsstelle ausbaute. Die einfachen Soldaten waren schmutzig und abgerissen, sie schliefen in der Scheune und in den Ställen, hier bei uns und in der Nachbarschaft bei den Bauern, aber sie ließen uns unbelästigt, hielten sich aus unserem Tanzsaal, in dem 

unsere Familie einquartiert war, zurück und trafen Mutter und Tanten nur in der Küche am großen Herd der Frau Eiermann, wo der Chef der Einheit, ein hochgewachsener Ritterkreuzträger, Kaffee aus Getreidekörnern röstete und mit Apfelkernen würzte.

“Die Kaffeeböhnchen bekommen langsam schwarze Pöchen,” sagte er scherzend während er unaufhörlich die Körner in der Bratpfanne umrührte. Und er erzählte, wie seine Truppe einmal einige Wochen nur von Äpfeln gelebt hatte. General Bongarzt sollte der letzte deutsche hohe Militär gewesen sein, den wir hier noch zu sehen bekamen. Er sprach nicht viel über die militärische Lage, außer, dass das Gebiet hier über dem Neckartal wohl Hauptkampfzone werden würde und er sah voller Sorgen hinterher, wie der SS-Scherge Ganninger in den feldgrauen Sanitätswagen stieg, der auf dem Dach das ihn heimtückisch schützende internationale Rote-Kreuz-Zeichen trug. Die SS konnte sich mit diesem schäbigen Trick gut gegen Jabo Angriffe der Alliierten schützen. Unten in Neckargerach hatten sie zwei Sechzehnjährige hingerichtet, die Angst hatten, sich mit einer Panzerfaust dem heranrollenden übermächtigen Feind entgegen zu stellen. Bongarzt war Soldat, nicht Henker von halbwüchsigen Jungen, aber Ganninger war der Truppe immer noch auf den Fersen und bedrohte auch die Höchsten des Regiments mit seiner Gegenwart.

Am Abend erklärte sich ein Soldat bereit, im Schutz der Nacht unserer großen Familie zu helfen, das Gepäck aus dem bedrohten Neckargerach unten am Fluss zu holen. Er benutzte dazu ein Pferd und einen Wagen, die beide soeben im dem Dorf beschlagnahmt worden waren. Er wartete an der gesprengten Fähre diesseits des Ufers. Wir alle, auch die Kinder beteiligten uns an dieser Rettungsaktion der armseligen letzten Habe und schleppten die Koffer, den Kinderwagen, die Decken oder sonstigen Flüchtlingskram zu dem Nachen, um alles rüber an das rettende andere Ufer zu bringen.

“Hoool”, klang der übliche Ruf nach dem Fährmann am anderen Ufer und schon glitt am Stahlseil hängend der Nachen quer über den dunklen Fluss, auf dessen anderer Seite das Pferd mit dem Soldaten wartete, um uns aufladen zu lassen. Holpernd ging es dann den ungepflasterten Weg hinauf ins Katzenbacher Tal und rasch, noch lange bevor der Morgen graute war alles abgeladen und verstaut. Am Herd saßen die Tante Paula und die Oma, glücklich lächelnd vor einem Korb mit Eiern, die sie uns entgegen hielten. “Ich ging den Pfad hinauf zur Frau Queck”, sagte die Tante, “und ich fragte ganz schüchtern, ob sie mir ein paar Eier verkaufen könnte, da doch bald Ostern sei und die vielen Kinder Hunger hätten.”

“Ha, welle sie fuffzig Stück”? war die kaum glaubliche Antwort der guten Frau gewesen - und das Osterfest war gerettet.

Und so begann man eine systematische Tour, bei den Bauern, die nun nicht mehr in die Städte abliefern konnten, weil Transporte, Verrechnung, Ablieferungspflichten und alles sonstige Organisatorische des zu Ende gehenden Dritten Reiches nicht mehr funktionierten. Aber die Hühner hier auf dem Lande legten nach wie vor fleißig ihre Eier und man konnte sich denken, dass auch Kühe, Schweine, Kartoffeln und Getreide, sowie Äpfel und Birnen weiterhin mehr an Nahrung lieferten, als die Bauersleute selbst benötigten. Unsere Mütter hakten hier ein und erklärten sich zum Hauptabnehmer der umliegenden Bauern, denn wir waren inzwischen immerhin neunzehn Leute, die mit Geld und Lebensmittelkarten gekommen waren und auch Hilfe auf dem Land versprachen, wenn man sie hier nur ernähren wollte. “Wir bleiben einstweilen,” verkündete sie nur noch und das große Kochen, Backen, Milch ansäuern, Butter stampfen und Käse machen hat wohl schon an diesem Abend begonnen. 

In den Bergen hörte man regelmäßig Artilleriefeuer, die Soldaten der Kampfgruppe wurden unruhig, es wurde von Absetzen gesprochen, ordnungsgemäßem Rückzug und die Funker mit ihren Drahtgeräten sahen sich nach Fahrzeugen um. Das Pferd und der Heuwagen waren wieder verschwunden, der Besitzer hatte alles einfach im Wald versteckt, als er Futter holen war und so kam der kleine Mannheimer Funker zur Tante Paula, um ihr den kleinen Handleiterwagen abzunehmen. Das Transportmittel Nummer eins der Großfamilie, das der Onkel Kurt in seiner Fürsorglichkeit noch schnell vor seinem Abtransport an die Front neu gekauft hatte, damit die Tante Paula die beiden kleinen Buben schnellstens bei Fliegeralarm in den nächsten Bunker retten konnte.

“Darauf passt alles und wir müssen den Wagen requirieren,” sagte der Funker zu der verzweifelten Tante und begann aufzuladen.

Unsere Mutter kam mit dem Chef der Einheit zu dieser Beschlagnahmungsaktion dazu. Sie war mit dem Hauptmann bereits klar gekommen, dass der Transport von Kleinkindern ebenso wichtig war, wie der Transport von Funkgeräten und gegen den Protest des Mannheimer Funkers, der seine Geräte nicht auf den Schultern tragen wollte, wurde befohlen: “Der Bollerwagen bleibt stehen, die Frauen haben ihn mitgebracht und können ohne ihn mit den Kindern nicht aus der Nahkampfzone fliehen, wenn es soweit sein sollte. Verstanden?”

“Jawohl, Herr Hauptmann”! war die Antwort und ein giftiger Blick des Funkers streifte die Mutter, als er das Gerät auf seinen Rücken wuchten musste.

Vieles blieb in der Scheune und in den Ställen liegen, sogar komplette Uniformen von Landsern, die bereits bei Nacht in alten Jacken, die im Stall hingen, verschwunden waren. Mit einer Mistgabel in der Hand, oder mit einer Schippe auf dem Buckel waren sie, wie ortsansässige Bauern aussehend im Wald verschwunden. Ein ideales Flucht-Gebiet hier, wo der Sanitätswagen des SS-Mannes nicht folgen konnte, da die Wege ungepflastert und mit Büschen zugewachsen waren. Als sie fort waren, fanden wir Jungs ein automatisches Maschinengewehr, das MG-42 und viele andere Kleinigkeiten, die ein Soldat wegwirft, wenn er auf der Flucht ist. Wir vergruben es, vorsichtshalber eingewickelt in Ölpapier hinten am Bienenhaus, wo es wohl noch heute liegt. Wir Kinder hatten den strikten Befehl von unserer Mutter, kein Kriegsgerät anzufassen oder sich gar damit dem Feind zu zeigen. Vielen Kindern kostete in  diesen Tagen solch ein Leichtsinn das Leben.

Mehrere Tage lang geschah dann gar nichts. Abends saßen wir in der Wirtsstube am Volksempfänger, wo ein Dr. Goebbels noch aufputschende Reden hielt und aus Berlin verkündete, dass der Führer den Heldentod erlitten hatte, so dass jetzt ein Admiral der Kriegsmarine als neues Oberhaupt den Sieg mit neuen Wunderwaffen erzwingen würde. Auch der Onkel Karl aus Ludwigshafen, ein kleiner völlig überzeugter Nationalsozialist der harmlosen Art, der bei der SA war, hatte den Glauben an den Sieg verloren und er spekulierte mit den erwachsenen Frauen, wie es uns nun demnächst ergehen würde.

Draußen hörte man noch hin und wieder einen Artillerieschuss. Wie erfahrene Frontsoldaten wussten aber auch bereits wir Kinder, wie weit so ein Geschütz stand. Ohne je etwas von einem Doppler-Effekt oder sonstigen physikalischen Geheimnissen gelernt zu haben, hörten wir an der Tonhöhe der durch die Luft jaulenden Granate, wo sich die Explosion ereignen würde. Bei gleichbleibender Tonhöhe bis zum Einschlag waren wir sicher, dass uns nichts geschehen würde, sondern dass sich das Zielgebiet weiter entfernte.

Über das KZ wurde gesprochen, das auf der anderen Seite des Flusses lag und über die Gefahr, dass die Sträflinge sich über die Bevölkerung hermachen würden. Über die eventuelle Bedrohung, dass Neger in der Truppe der Amis vielleicht auch, ähnlich den Russen, die Frauen und Mädchen überfallen könnten. Und dann die Juden in den Lagern: “Jetzt wird man sie zu Märtyrern machen”, sagte der Onkel Karl, dabei waren sie es doch schon längst. Aber was wusste man schon und erst recht wir Kinder?

“Das wird uns noch viele Jahre sehr viel kosten”. Alles das wurde beim Mittagstisch diskutiert. Es war gerade Karfreitag und es gab grünen Salat mit Eiern und Kartoffeln dazu. Mit inzwischen zehn Jahren hatte auch ich schon alles mitgekriegt und ich fühlte mich bereits für alles verantwortlich, was ich hörte. Unser Vater war weit und wir hatten keine Nachricht von ihm. Auch die anderen Kinder der Familie vermissten ihre Väter jetzt vor Ostern besonders, als alles so unsicher aussah.

“Hajo, die hätten sie doch in Ruh’ lasse solle, die hawwen doch käm Mensch was geduh. D’Judde hat’s doch immer schu gäwwe, jetzt kummt die Stroof defür. ‘De Judd aus’m Land, de Krischt an die Wand,’ hat die Bella g´saacht, als man sie mit ihrer gesamten Familie mitten im Ort am Dorfkreuz zum Abtransportiere zusammengetriebe  hat....

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